Fokus Forschung: Ein weiter Weg

Fokus Forschung: Ein weiter Weg

Forschung, Veranstaltungen

Onlinefachtagung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes

Galerieansicht mit sieben Personen
Referent:innen in der Galerie: Prof. Dr. Ludger Kolhoff (Ostfalia – Hochschule Braunschweig / Wolfenbüttel), Prof. Dr. Sebastian Noll (HSMW, Organisation und Moderation), Prof. Dr. Michael Boecker (FH Dortmund), Moritz Bock (FH Dortmund), Sarah Wiesemann (HSMW), Sina-Marie Levenig (FH Dortmund), Prof. Dr. Ute Kahle (Dresden School of Management SRH Berlin)

Die grundlegenden Ziele des 2016 beschlossenen Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind die Stärkung der Selbstbestimmung und mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung. Die vollständige Umsetzung des BTHG steht aber bis heute aus. Der Umbau der bisherigen Eingliederungshilfe, der in den 16 Bundesländern in unterschiedlichen Bahnen verläuft, ist ein komplexer Prozess und dauert länger als gedacht. Trotzdem und gerade deswegen lohnt bereits in dieser frühen Phase ein wissenschaftlicher Blick auf die Umsetzungswirklichkeit, so der Organisator und Moderator Professor Sebastian Noll von der Hochschule Mittweida.

Vier Forscherteams haben auf der Online-Fachtagung am 17. November 2023 die Ergebnisse ihrer Projekte präsentiert. Veranstalter war die Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmanagement / Sozialwirtschaft e.V. als Vereinigung von Lehrenden und Forschenden und die Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida. Rund 60 Teilnehmende folgten der Einladung zur Zoom-Konferenz und hörten nicht nur zu, sondern brachten sich breit mit Fragen und Anmerkungen ein.

Nach der Begrüßung der Teilnehmenden durch die Dekanin Professorin Isolde Heintze gab Professorin Ute Kahle von der SRH in Dresden in ihrem Vortrag zunächst einen Überblick. Sie beschrieb die Entwicklung der Eingliederungshilfe in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Sie verband die fachkonzeptionellen Überlegungen der Sozialraum- und Lebensweltorientierung mit neuen Instrumenten wie Inklusionsbetrieben oder der Ergänzenden Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), in der nach dem Peer Counseling Menschen mit Behinderung Ratsuchende mit Behinderung beraten. Im Auge behielt sie dabei das Spannungsverhältnis zwischen Teilhabe und Wirtschaftlichkeit.

Der zweite Input kam von Professor Michael Boecker (FH Dortmund) mit seinem Forscherteam. Hier lag der Fokus auf der Teilhabe am Arbeitsleben, insbesondere auf Gelingensbedingungen und Barrieren. Beginnend mit einer qualitativen Vorstudie wurde ein Fragebogen entwickelt und eine bundesweite quantitative Erhebung durchgeführt. Erste vorläufige Ergebnisse zeigten, dass es Menschen mit Behinderung u.a. an entsprechender Unterstützung fehlt, um auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln zu können. Wichtige Gelingensbedingungen stellten Freiräume, Rücksichtnahme sowie barrierefreie Arbeitsplätze dar.

Professor Ludger Kolhoff (Ostfalia – Hochschule Braunschweig / Wolfenbüttel) warf einen Blick auf eine Region und stellte Projekte unter dem Titel „Umsetzung des BTHG in der Region Südostniedersachsen“ vor. Eine Primäranalyse mit Leitungskräften und Mitarbeitenden von Leistungsträgern und Leitungserbringern aus Wolfsburg und Salzgitter hätten gezeigt, dass öffentliche Leistungsträger vor dem Dilemma stehen, zwischen der ökonomischen Rationalität und der Bewilligung von Leistungen nach dem personenzentrierten Ansatz des BTHG abzuwägen. Die privaten Leistungserbringer müssten vermehrt administrative Aufgaben übernehmen anstatt die Begleitung von Menschen, was zur Folge hat, dass die eigentlichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen zu wenig im Mittelpunkt stehen.

Professor Sebastian Noll und Sarah Wiesemann von der Hochschule Mittweida warfen den Blick über den nationalen Tellerrand. Ihr Projekt verglich die Umsetzung von mehr Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit geistiger Behinderung in gemeinschaftlichen Wohnformen in Deutschland und den Niederlanden. Ausgewählte Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die niederländischen Leistungserbringer stärker mit anderen Einrichtungen im Sozialraum kooperieren und Menschen mit Behinderung dadurch ein breites Angebot ermöglichen. Unterschiede zwischen beiden Staaten legten auch die Befragungsergebnisse zur Führungspraxis innerhalb der Organisation nahe: Während hierzulande zentrale Standards und Steuerungsinstrumente im Vordergrund stehen würden, betonten die niederländischen Organisationsvertreter:innen einen dezentralen und eigenverantwortlichen Weg; mehr selbstbestimmte Teamarbeit soll Selbstbestimmung der Klient:innen bedingen.

Im Vordergrund der Abschlussdiskussion, die von Professorin Andrea Tabatt-Hirschfeldt (Ostfalia – Hochschule Suderburg) geleitet wurde, stand das Thema Kooperation zwischen Einrichtungen, die in Deutschland als unterentwickelt wahrgenommen wird. Während einige Stimmen hier mehr Kreativität und Engagement der Einrichtungen selbst verlangen, sehen andere strukturelle Probleme wie bürokratischen Hürden und eine zu schlechte finanzielle Ausstattung als Hindernisse an. Betont wird grundsätzlich, dass die Wissenschaft den weiten Weg der Umsetzung weiter kritisch zu begleiten hat.

Foto: Christian Kästner
Text: Prof. Sebastian Noll