Fokus Forschung: Orgelbau trifft Automobilhersteller und Hochschule

Fokus Forschung: Orgelbau trifft Automobilhersteller und Hochschule

Forschung, Forschungsprojekte

Drei Männer mit einer ganz besonderen Beziehung zur Leipziger Nikolaikirche und wie Porsche, Orgelbau und die HSMW zusammenpassen

Orgelpfeifen
Orgel in Vollendung: Die Ladegastorgel in der Nikolaikirche zu Leipzig

„Porsche-Orgel“, so wird die Ladegast-Eule-Orgel der Leipziger St. Nikolaikirche im Volksmund genannt, und tatsächlich gehören sowohl Auto als auch Instrument zur Oberklasse in der jeweiligen Kategorie. Warum ein Stück aus Mittweida ebenfalls dazugehört und wie das Ganze zusammenpasst, sei hier beschrieben.

Friedrich Ladegast und die Orgelwerkstatt

Friedrich Ladegast aus Weißenfels baute 1862 die Orgel der Nikolaikirche zu Leipzig. Sie war sein größtes Werk und war und ist wieder die größte Orgel des Freistaates Sachsen. Damals erbaut mit 84 Registern weist die Orgel heute nach diversen Umbauten und Restaurierungen insgesamt 106 Register auf.

Einst vielgerühmt wegen ihres besonderen Klanges ging dieser am Anfang des 20. Jahrhundert durch vermeintlichen technischen Fortschritt verloren. Die gravierenden Umbauten Anfang des 20. Jahrhunderts wurden durch die Firma Sauer vorgenommen. 2004 konnte nach einer umfangreichen Restaurierung durch die Firma Orgelwerkstatt Hermann Eule aus Bautzen die Ladegast-Orgel wiederhergestellt werden. Durch eine Erweiterung um ein zusätzliches Manual konnte die Klangvielfalt vergrößert werden.

Porsche AG und Orgelbau

Die Porsche AG unterstützte die Sanierung der Orgel mit insgesamt knapp 2 Millionen Euro. Doch nicht nur finanziell sind der Automobilhersteller und die Orgel verbunden, sondern auch im Design des Spieltisches finden sich Gemeinsamkeiten. Da es den originalen Spieltisch von Ladegast nicht mehr gab, entwickelten Orgelbauer und Automobilbauer einen wohl einzigartigen Spieltisch zur Steuerung des Instrumentes, der mit dem „red-dot-award“ ausgezeichnet wurde. Porschetypisch wird die Orgel links vom Spieltisch gestartet und die Schwellanzeigen weisen die charakteristische Tachooptik von Porsche auf. Zusätzlich kommen Sitzheizung und Rückfahrkamera zur Beobachtung des Altarraums hinzu.

Christian Schulz und die Orgelsteuerung

Professor Dr.-Ing. Christian Schulz war bis Februar 2024 Inhaber der Professur Automatisierungstechnik an der Hochschule Mittweida. Im Rahmen eines Forschungsvorhabens entwickelte er seit 2006 gemeinsam mit der Firma Orgelwerkstatt Hermann Eule ein elektronisches System zur Ansteuerung der Ton- und Registerventile (Traktur) einer Orgel auf der Basis einer verteilten Mikrocontroller-Steuerung. Dieses System wird mittlerweile beim Elektronikdienstleister IMM in Serie gefertigt und ist unter ist dem Namen Orgelelektronik System Eule (OSE) schon weltweit in über 50 Orgeln eingebaut.

Den Anstoß zur Systementwicklung gab der Alt-Rektor der Hochschule Mittweida und Ehrenbürger der Stadt Mittweida Prof. Dr.-Ing. habil. Reinhard Schmidt, gelernter Orgelbauer.

Vom technischen Grundprinzip funktioniert eine Orgel folgendermaßen: Ein Ton, der durch eine oder mehrere Pfeifen erzeugt wird, erklingt genau dann, wenn am Spieltisch die entsprechende Manual- oder Pedaltaste betätigt und das zugehörige Register (Pfeifenreihe gleicher Bauart) gezogen wird.

Die Ansteuerung der Ton- und Registerventile entwickelte sich von der rein mechanischen Funktionsweise hin zur elektronischen Ansteuerung. Um die dabei häufig im Spieltisch auftretenden Kontaktprobleme zu lösen, entwickelte Christian Schulz gemeinsam mit Dr. Jörg Krupke (Fakultät CB) eine als „elektronischer Bypass“ gedachte Lösung, die ein Baukastensystem von knapp zwanzig verschiedenen Leiterplatten zum flexiblen Aufbau einer elektronischen Ton- und Registertraktur umfasst. Der Mikrocontroller im Spieltisch erfasst dabei das Eingangsabbild der Belegung, berechnet daraus das Ausgangsabbild und überträgt dieses über einen CAN-Bus an die Orgel.

Abenteuer Registerrettung

Beim Einbau der neuen Orgelektronik in Leipzig ergab sich nebenbei noch ein Problem, mit dem keiner der Restauratoren und Wissenschaftler gerechnet hatte. Um die Orgel weitgehend unempfindlich gegen Angriffe und Viren zu machen, besitzt die Orgel keine von außen zugängliche USB-Schnittstelle. Jeder Organist speichert aber die für sein Spiel notwendigen Register am Mikrocontroller in der Orgel ein, um bei Bedarf auf sie zugreifen zu können. Wie sollten diese nun auf die neue Spielelektronik übertragen werden? Jahrelange Arbeit schien verloren. Christian Schulz kam der rettende Gedanke. Zunächst mussten 4.000 verschiedene Setzerkombinationen (und 126 verschiedene Registerzugstellungen) fotografiert werden. Mit KI wurde dann die Stellung der Registerzüge als gezogen bzw. nicht gezogen festgehalten und in einen Programmiercode umgewandelt. Per Ferndiagnose steuerte Prof. Schulz den CAN-Bus an und übertrug die Register direkt in den Mikrocontroller, die Arbeit der Organisten war gerettet.

Markus Kaufmann und die Festwoche „Orgel in Vollendung“ im Oktober

Markus Kaufmann ist seit 2021 der Kantor der Nikolaikirche. Er schwärmt von „seiner“ Orgel: „Dynamik, Exklusivität und Traditionsbewusstsein verbinden sich in der größten Orgel Sachsens. An diesem Instrument musizieren zu können, ist unbeschreiblich: der elegante Spieltisch, die Wärme der Klangfarben und die Detailverliebtheit inspirieren und faszinieren mich jeden Tag aufs Neue. Damit ist es gelungen, ein Instrument in Vollendung zu schaffen. Ein Instrument, das zudem mit seinem Klang eine Einladung ausspricht: In der Nikolaikirche sind alle Willkommen. Im Zuge der Arbeiten an der Vollendung des Instrumentes im Jahr 2024 konnten nun auch noch einmal die spieltechnischen Möglichkeiten erweitert werden: Als Kirchgemeinde sind wir dankbar, dass es durch die Kooperation zwischen traditionellem Orgelbauhandwerk und dem innovativen Geist der Fachhochschule Mittweida gelungen ist, eine moderne Speicheranlage für die Registrierungen der Organistinnen und Organisten einzubauen, und die vormals vorhandenen Kombinationen ohne Datenverlust auf die neue Setzeranlage zu übertragen. Auch klanglich wird der Erfindungsreichtum von Prof. Schulz in Zukunft hörbar sein: So planen wir momentan das erste dynamisch variable Röhrenglockenspiel in einer Orgel. Mit dem Register Macan gewinnt die Ladegast-Eule-Orgel noch einmal an Exklusivität und Eleganz.“

Die „Königin der Instrumente“, wie die Orgel auch genannt wird, wurde anlässlich des 20jährigen Jubiläums der Orgelsanierung im Jahr 2024 um drei weitere Klangfarben und das OSE-System erweitert. Zwei der neuen Register tragen mit Macan und Panamera die Namen der in Leipzig hergestellten Porsche-Modelle. Das dritte Register trägt den Namen „Vox Populi“ – die Stimme des Volkes – und erinnert damit an die Friedliche Revolution in Leipzig.

Erstmalig erklang die Orgel in voller Schönheit anlässlich einer Festwoche Ende Oktober. HSMW-Rektor Professor Volker Tolkmitt sagte nach dem Besuch des Auftaktkonzerts: „Ich habe heute zum Auftakt der Orgelfestwoche ein tolles Konzert in der Leipziger Nikolaikirche erleben dürfen. Das Mittelsächsische Sinfonieorchester hat im Wechsel- und im Zusammenspiel mit der berühmten Orgel, gespielt von Markus Kaufmann, die Nikolaikirche erschallen lassen. Die Tatsache, dass in den vielen Tönen von laut bis leise, von hoch bis tief, die ein einzigartiges Klangerlebnis in diese schöne Kirche gebracht haben, immer auch ein Stück „Hochschule Mittweida“ steckte, hat mich das Konzert besonders genießen lassen. Dank allen, die diesen neuen Klang der Orgel ermöglicht haben und danke, dass unsere Hochschule dazu gehört.“

Konzerthinweise in der Nikolaikirche

21. / 22. Dezember 2024, jeweils 17 Uhr:
Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach

14. Februar 2025, 19:30 Uhr:
Orgelabend zum Valentinstag mit Nikolaikantor Markus Kaufmann – Musik für Liebende und Verliebte

Text: Prof. Christian Schulz, Markus Kaufmann, Annett Kober
Bilder: (1-5) Hochschule Mittweida, (6) Marco Prosch, (7) Laurenz Grieger